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2016-02-12

DREAM THEATER - The Astonishing

"Ambitioniert" ist wohl die zentrale - und geschickteste - Vokabel in der Promotion zum neuen Werk von Dream Theater, einem zweieinhalbstündigen, aus 34 Tracks bestehenden Konzeptalbum der Kategorie Rock-Oper.

Selbst wenn er das Teil überhaupt nicht ausstehen kann, wird doch fast jeder Kritiker zumindest diesem Wort zustimmen und es übernehmen. Denn dass ein Unterfangen ambitioniert ist, sagt ja nur etwas über die Absicht aus, jedoch noch gar nichts über den Erfolg.

Die Absicht der Band war es, ihr eigenes "The Wall" zu schaffen, eine Zielsetzung die mir im Grunde redundant vorkommt, da Dream Theater ja bereits 1999 mit "Metropolis Pt. 2: Scenes From A Memory" ein Konzeptalbum veröffentlicht haben, welches den zum Ende hin doch etwas durchwachsenen Pink Floyd-Klassiker klar in die Tasche steckt.

Wir reden jetzt natürlich, liebe Musikhistorikerpolizei, über meinen ganz persönlichen Geschmack.
"Scenes" gehört für mich in die rare Kategorie der so rundum perfekten Alben, dass ich auf die Frage "Was ist noch besser als das?" die Antwort verweigern würde. Und so viel sei schon gesagt: "The Astonishing" kann diesen Erfolg eindeutig nicht wiederholen.

Das muss es ja auch nicht zwingend. Oder verlangt irgendwer von Queensrÿche ein zweites "Operation Mindcrime"?

Upps.

   

DREAM THEATER - The Astonishing (2016)

Die eingangs genannten Zahlen lassen es bereits erahnen: "The Astonishing" ist zunächst einmal vor allem - und von allem - viel, sehr viel.

Beim ersten Durchlauf fühlte ich mich dadurch folgerichtig ziemlich erschlagen und ich habe mich auf eine ziemlich lange Warmlaufzeit eingestellt, um diese Reizüberflutung in meinem Kopf zu strukturieren. Eine Gesamtspielzeit wie ein mittlerer Tarantino-Film, ein Wust an Tracks und nach einem elektronischen Intro schon in der zweiten Minute die volle Breitseite aus dickster Zukleisterung mit Chören und Orchester, unmittelbar gefolgt von Gitarren- und Keyboard-Soli, Filmmusik, noch mehr Chören, noch mehr Orchester...

Und dann beginnt die Geschichte. James LaBrie singt ganze acht verschiedene Charaktere (und Exposition). Und immer wieder viel Keyboards, viel Chorgesang, viel Streicher, viel Leadgitarren. Hier Samples, da plötzlich eine Brassband, anderswo ein Dudelsack... Viel viel, viel...

Es flutschte dann aber beim lässigen Nebenbeihören doch sehr viel schneller als erwartet, "The Astonishing" zu entknoten.
(Und sollte es für ein Review doch noch zu früh sein und ich mich hier vollständig zum Affen machen, habe ich spätestens nach der Liveaufführung des Albums ja noch Gelegenheit, mich zu korrigieren.)

Zunächst einmal wirken die vierunddreißig Tracks gleich weniger bedrohlich, wenn man erkennt, dass davon eine Handvoll nur elekronische Zwischenspiele sind und es zudem Overtüren gibt, sowie ein paar Stücke, die eher handlungsorientierten Brücken- als eigenständigen Songcharakter haben. Und natürlich gibt es eine ganze Reihe Themen, die songübergreifend immer wieder aufgegriffen und variiert werden.

Also im Grunde alles ganz klassisch nach dem Rockoper-Lehrbuch, wie es auch Neal Morse oder Arjen Lucassen immer wieder gerne benutzen. Werke wie Spock's Beards "Snow" oder der Output von Ayreon sind es dann auch, mit denen sich Dream Theater hier realistischerweise am ehesten messen.

Und ob man sein Konzept dabei in wenigen Longtracks mit unendlich vielen Parts präsentiert oder eben gleich in vielen kurzen Stücken, ist ja letztendlich reine Formsache.


Die musikalische Basis von "The Astonishing" sind die melodischen und nur relativ selten in Frickelorgien ausbrechenden Dream Theater, wie man sie beispielsweise von "Octavarium" kennt. Was das Verhältnis von Gefühl zu Technik angeht, kommt auch "Scenes From A Memory" als Vergleich in Frage.

Und doch ist dies klanglich eine ganz andere Baustelle. John Petrucci hat zwar das komplette Konzept im Alleingang ersonnen und ist mit der Gitarre sehr geschmackvoll präsent, doch die Hauptrollen überlässt er zu großen Teilen anderen.  Die musikalische Bebilderung der Geschichte obliegt vor allem Keyboarder Jordan Rudess und im fast ebenso großen Maße Komponist David Campbell.
Der Kanadier hat nicht nur diverse Filmsoundtracks in seiner Vita stehen, sondern ist vor allem die Luxus-Go-To-Adresse, wenn es darum geht, sich als Pop-, Rock-, Rap-, Countrystar in klassische Klänge aller Art einzuwickeln.

Durch seine Arbeit auf "The 2nd Law" von Muse sind Dream Theater auf ihn gekommen, und tatsächlich ist das Album auch eine ganz gute Referenz für vieles, was er zu "The Astonishing" beigesteuert hat.

Bass und Schlagzeug konzentrieren sich ungewohnt stark auf ihre Kernaufgabe als sicheres Fundament, welches all den Kladderadatsch darüber zusammenhält. Und das ist auch notwendig und richtig so.
Mike Mangini erhält noch einige wohldosierte Angeberspots, in denen er sich an seinem Kit austoben darf, während die Performance von John Myung wesentlich geradliniger und unauffälliger als auf den letzten beiden Alben gerät.

James LaBrie hingegen hat eine tragende Rolle wie niemals zuvor auf einem Dream Theater-Album, da wirklich lange Instrumentalpassagen rar gesät sind und es einfach eine Menge Text aus verschiedenen Perspektiven abzusingen gibt.
Ok, "abzusingen" klingt unangemessen despektierlich. Denn wenn es in einem Punkt wohl kaum Widerspruch geben dürfte, dann darin, dass der Sänger wirklich unglaublich auf den Putz haut.
Ohne dabei ins zu verstellte Schauspielern zu geraten, schafft er es, alle Figuren gut unterscheidbar zu verkörpern. Das Album wird so als Krönung über allem, was sonst darauf geschieht, vor allem zu LaBries Meisterstück.



Nicht ganz so erstaunlich wie der Titel und die Musik ist allerdings die Story, welche auf "The Astonishing" erzählt wird:
Ein dystopisches nordamerikanisches Imperium befindet sich gesellschaftlich in einem nicht weiter erklärten, aber halt so schön an "The Hunger Games" und ähnliche Geschichten erinnernden Spagat zwischen Science Fiction und Mittelalter.
Die einzige erlaubte Musik wird von Maschinen fabriziert. Es gibt allerdings eine Widerstandsbewegung. Und die Wunderwaffe des Anführers dieser Miliz ist sein Bruder, eine Erlösergestalt, die den Menschen die Musik wiederbringt...

Natürlich sind die meisten Rock-Oper-Handlungen eher naiv gestrickt und würden auf ein anderes Medium übertragen eher nicht funktionieren.
Viel wichtiger als die Tragkraft der Handlung an sich ist ihre Umsetzung, und durch deren Qualität funktioniert die Erzählung von "The Astonishing" durchaus.

Allerdings wurden meiner Meinung nach auch einige Chancen vertan, da irgendwie doch alles nur zum Hintergrund für eine ziemlich konventionelle Romeo-und-Julia-Geschichte um Liebe, Macht und Familienbande wird, die keine wirklich großen Überraschungen bereithält.
Mich persönlich hätte eine Handlung, die sich mehr um die gesellschaftlichen Konflikte in ihrer ganzen Hässlichkeit kümmert, besser gefallen. Dadurch, dass das Album ja deutlich die für Konzeptwerke dieser Art typische Neigung zum Musicalhaften hat, ist mir von der angeblichen Dystopie viel zu wenig zu spüren.
Ein interessanter Ansatz wäre gewesen, die Rolle der "noise machines" noch weiter auszubauen. Deren Zwischenspiele dienen sicherlich vor allem dafür, dass sich die Musiker live mal eben die Finger ausschütteln können. Doch was wäre es für eine mutige Möglichkeit gewesen, ihre elektronische Musik auch tatsächlich ins Songwriting zu integrieren! Und die Musik hätte noch unmittelbarer mit der von ihr illustrierten Welt zu tun.

Es gäbe also im Setting durchaus Ansatzpunkte, das Ding auch musikalisch unkonventioneller aufzuziehen. Denn dass Rockopern auch ohne strenge Anlehnung ans Regelbuch hervorragend funktionieren können, ist ja z.B. durch Motorpsychos "Death Defying Unicorn" hinreichend bewiesen.

Doch dies ist im Großen und Ganzen auch nur Kritik auf hohem Niveau.

Es sind letztendlich nur ein paar Passagen, die mir wirklich klar zu kitschig geraten sind, insbesondere diese Weihnachtsglocken in "Begin Again". Örgs. Doch gerade angesichts der Gesamtspielzeit haben solche Momente tatsächlich kaum Gewicht.


Das einzige ernsthaft große Ärgernis ist der Quasi-Titeltrack und Rausschmeißer "Astonishing".
Wenn die fabelhaften Superprogmetaller Dream Theater mir über zwei Stunden lang eine Geschichte erzählen, in der Musik die Welt rettet, dann erwarte ich am Ende auch ein wirklich großes, schillerndes, zauberhaftes, erstaunliches Stück Musik!
Und auch weil am Anfang beider CDs Overtüren stehen, sowie gegen Ende des ersten Teils in "A New Beginning" das schönste und längste Gitarrensolo des Albums gab, würde ein abschließendes, alles überragendes Instrumental auch strukturell Sinn haben.
Aber stattdessen gibt es den einfallslosesten Track von allen; Dream Theater im erprobten langsamen Epochalmodus, mit viel zusätzlichem Tamtam, aber im Zusammenhang doch seltsam substanzlos und ernüchternd.
Da kann man nur hoffen, dass sie sich zumindest für die Liveaufführung noch ein dramatisches Ass im Ärmel aufgespart haben.

Mein Tipp: Besser "gleich" nach Track 33 auf Stopp drücken, dann endet "The Astonishing" zumindest ein wenig befriedigender.


Insgesamt ist  "The Astonishing" dennoch ein wirklich großes, beeindruckendes Werk geworden, welches sich mit jedem Durchlauf zu weiterer Pracht aufbläst.

Wie eingangs verraten kann es sich in seiner Gesamtheit zwar nicht mit der innerdiskographischen Referenz "Scenes From A Memory" messen, doch im oberen Drittel oder Viertel der Dream Theater-Albumgeschichte sollte es sich langfristig durchaus festsetzen können.

[EDIT November 2016: Nach Monaten, in denen mich vor allem die Story und Gesamtlänge vom Hören des Albums abgehalten haben (seit dem Konzert Anfang März nur zwei Durchläufe), muss diese Einordnung wohl weit nach unten korrigiert werden.]


Aber zurück zum Gemecker: Wenn ich schon dabei bin, diesen Text viel negativer erscheinen zu lassen, als ich das Album tatsächlich empfinde, hier zum Schluss noch als sanfte Kritik Stinkefinger in Richtung Roadrunner Records ein paar aktuelle Vinyl-Preise:

Kamasi Washington (3 LPs) : ca. 30 Euro
Iron Maiden (3 LPs) : ca. 30 Euro
The Gentle Storm (3LPs + 2 CDs) : ca. 40 Euro
Dream Theater (4 LPs) : ca. 40  Euro? nein, es sind 94,99 Euro!

Ich bin ja kein Mathematik-Genie, aber irgendwas liegt da doch schief. Das muss ja eine gigantisch geile Karte sein, die der LP-Box beiliegt...

Deswegen: Kaufen unbedingt - aber nur auf CD!
Sonst denkt da noch jemand, diese Preispolitik sei okay.



Anspieltipps: A New Beginning, Moment Of Betrayal, Three Days, The Gift Of Music, The Path That Divides, A Saviour In The Square, Lord Nafaryus


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